Wir müssen uns einmischen
Am letzten Sonntag im September wählen wir - also alle, die schon dürfen - den nächsten deutschen Bundestag. Die Abgeordneten, die mit unseren Stimmen einen der begehrten Plätze ergattern, werden in den kommenden vier Jahren von Berlin aus über unser Land bestimmen. Sie entscheiden, wie wir mit dem Klimawandel umgehen und ob wir es schaffen, unsere Klimaziele zu erreichen. Sie sagen, wie es in der Flüchtlingspolitik weitergeht und ob die sicheren Häfen der Seebrücke endlich die Flüchtlinge aus den griechischen Lagern aufnehmen dürfen.
Sie stimmen darüber ab, wie die durch Corona entstandenen Schäden eigentlich bezahlt werden sollen: Müssen alle mehr Steuern zahlen? Müssen die Sozialleistungen, wie Rente, Arbeitslosengeld oder Hartz IV gekürzt werden? Bekommen Unternehmen künftig weniger Subventionen? Oder werden die Steuern auf die Gewinne aus Aktiengeschäften erhöht?
Neben all diesen wichtigen Weichenstellungen für unsere Zukunft, werden sie auch darüber entscheiden, wer die Nachfolge von Angela Merkel antritt und künftig auf dem Chef*innensessel im Bundeskanzleramt sitzt. Wer dort sitzt, soll die Richtlinien der Politik der Regierung bestimmen. Doch wer dort sitzt, braucht auch eine Mehrheit der Parlamentarier*innen hinter sich. Denn ohne neue Gesetze lässt sich nur schwer etwas verändern. Neue Ideen brauchen eben auch neue Regeln.
Und wir? Was dürfen wir noch entscheiden? Wir stimmen am 26. September darüber ab, wer im nächsten Bundestag sitzt. Mit unserer Erststimme wählen wir den oder die Abgeordnete für unseren Wahlkreis, der oder die auch die Interessen der Region im Bundestag vertreten soll. Mit der Zweitstimme wählen wir eine Landesliste. Die Zweitstimme entscheidet letztlich über die Macht-Verhältnisse im Deutschen Bundestag. Auf der Grundlage des Zweitstimmenergebnisses wird errechnet, welche Partei wie viele Sitze im neuen Bundestag bekommt.
Doch die Demokratie beschränkt sich nicht allein auf das Kreuz auf dem Wahlzettel. Vielmehr wird in aller Öffentlichkeit über nahezu jede Entscheidung diskutiert und an diesen Diskussionen kann sich jede*r beteiligen - etwa mit einem Brief (oder auch einer Mail) an eine*n Abgeordnete, mit einer angemeldeten Demo oder indem man digital einfach mitdiskutiert. Aber dürfen wir als Christ*innen und als christliche Jugendverbände überhaupt politisch sein?
Wir dürfen es nicht nur, wir müssen es sogar sein. Das ist ganz klar eine der Botschaften des Evangeliums. Wir haben Verantwortung für die Welt, in der wir leben und deshalb müssen wir uns als Christ*innen auch an den Diskussionen über die Zukunft eben dieser Welt beteiligen. Auch Jesus selbst war ein ungemein politischer Mensch.
Aber was bedeutet eigentlich politisch sein? An erster Stelle steht sicherlich, die Augen zu öffnen, hinzuschauen und zu fragen, was richtig und was falsch ist. Jesus Christus selbst hat uns dafür einen ziemlich guten Kompass mitgegeben. Auch, wenn manche seiner Ideen zunächst in wohl jedem und jeder von uns auf Widerstand stoßen. Allein das hier: „Ihr habt gehört, dass gesagt worden ist: Du sollst deinen Nächsten lieben und deinen Feind hassen. Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen“. Lieben heißt eben auch, davon auszugehen, dass auch der politische Gegner an sich nur das Gute will. In der Auseinandersetzung in einer Demokratie wird Jesu Gedanke äußerst fruchtbar: Nur in der Toleranz für die andere Meinung lässt sich eine gemeinsame Lösung für ein Problem finden. Nur wenn wir alle respektvoll miteinander umgehen, können wir eine Gemeinschaft formen, die gemeinsam voranschreitet. Und was ist mit denen, die den Respekt verweigern? Die jede Debatte vergiften? Denen die Liebe fehlt? Ihnen müssen wir ein Stück weit entgegen treten, denn wir dürfen uns auch nicht von ihnen unterdrücken lassen.
Die Geschichte ist voll von Christen, die gegen die Unterdrückung totalitärer Systeme aufgestanden sind - auch in der jüngeren Vergangenheit: Etwa Franz Reinisch, der als einziger Priester den Fahneneid auf Adolf Hitler verweigerte und dafür hingerichtet wurde. Oder der evangelische Theologe Dietrich Bonhoeffer, der im Widerstand gegen die Nationalsozialisten tätig war. Auch er wurde hingerichtet. Das Ende der DDR nahm ihren Anfang in den Kirchen, von denen aus die friedlichen Demonstrationen starteten, bei denen in Leipzig am 9. Oktober 1989 schließlich 70.000 Menschen auf die Straße gingen, obwohl sie damit rechnen mussten, dass es ihnen ergehen könnte, wie den chinesischen Studierenden in Peking, deren Protest mit Gewalt niedergeschlagen wurde. Dort waren im Juni 1989 2600 Menschen umgebracht worden.
Doch wie lässt sich dieser Widerstand aus dem Evangelium heraus begründen? Im Gleichnis vom Gericht des Menschensohns über die Völker macht Jesus deutlich, dass wir als Christ*innen für unsere Mitmenschen da sein sollen. Dort werden diejenigen erlöst, die den Hungrigen zu essen gegeben haben, die Fremde aufgenommen haben oder die Inhaftierte im Gefängnis besucht haben. Jesus schließt in dem Ausspruch: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Darin liegt auch der Aufruf gegen Ungerechtigkeiten aufzustehen, sich für Unterdrückte und Verfolgte einzusetzen. Wir dürfen nicht schweigen, wenn Menschen in Not sind. Wir dürfen Unrecht nicht einfach hinnehmen. Als Christ*innen müssen wir uns einmischen. Gerne auch in einer Partei oder auch indem wir uns in die politischen Diskussionen einbringen, als katholische Jugendverbände aber auch privat, im Internet oder auch in persönlichen Gesprächen mit unseren Nächsten. Und natürlich an der Wahlurne. Die Ideen Jesu können uns dabei als verlässlicher Kompass und Richtschnur dienen. Etwa das Gleichnis von der Arbeit im Weinberg für die Ausgestaltung des Sozialsystems, Teile der Bergpredigt für die Regulierung unserer Wirtschaft oder das Gebot der Nächstenliebe für eine tolerante und offenen Gesellschaft, die niemanden ausgrenzt aufgrund von Religion, Geschlecht oder Hautfarbe.